Der Hof an der Grenze

Streitigkeiten um den Verlauf und die Rechtmäßigkeit politischer Grenzen sind wegen ihres oft einseitigen Zustandekommens keine Seltenheit. Dass es - wie in den Mappen zum Franziszeischen Kataster von 1820 ersichtlich - auch einmal eine ‚streitige Gränze der Gemeinde Kierling mit der Stadt Klosterneuburg' gab, verwundert dann doch ein wenig.

In der dazugehörigen Grenzbeschreibung vom 30.April 1820 liest sich das folgendermaßen: ‚Laut aufgenommenem kreisamtlichen Commissionsprotokoll werden die zur sogenannten Plettenfürst-Mühle gehörigen, zwischen dem Kirling-Altbach und dem Fahrwege liegenden Gründe von der Stadt Klosterneuburg sowohl, als auch von der Gemeinde Kirling, als zu ihrem Burgfriede gehörig, angesprochen. Da diese Grenz-Streitigkeit nicht ausgeglichen werden konnte, so wurden die streitigen Gründe sowohl in der Mappe, als auch in gegenwärtiger definitiven Grenzbeschreibung inklaviert.

Der besagte Grenzabschnitt betraf das Areal der 'Neumühle', einer der acht Mühlen, die durch Jahrhunderte entlang des Kierlingbachs betrieben wurden. 

Für den historischen Rückblick habe ich nach Alexander Potucek vor allem Hermann Bersch bemüht, der die Mühlen am Kierlingbach und ihre Besitzer ausführlich behandelt hat. 

Demnach hätte der in der Katasterbeschreibung erwähnte Name 'Plettenfürst' wohl ‚Plöckenfürst‘ heissen müssen; die im Gebiet von Klosterneuburg bis St. Andrä v.d.Hgt. angesehene Müllerfamilie dieses Namens war seit 1750 auch hier ansässig. Man erfährt weiters, dass es - laut Unterlagen im Stiftsarchiv - bereits 1678 beim Begräbnis der an der Pest verstorbenen Müllerstochter einen Disput zwischen Kierling und St. Martin um die pfarrliche Zugehörigkeit der Mühlenliegenschaft gab. Dieser dehnte sich offenbar auf die Gemeindezuständigkeit aus und war bis 1820 noch nicht bereinigt. Wann es letztlich zur Einigung kam, wäre noch zu erforschen. In der Neufassung der Mappe von 1869 bildet jedenfalls der Kierlingbach wieder ohne Wenn und Aber die Grenzlinie. 


Dasselbe gilt auch für die im Standardwerk ‚Klosterneuburg: Geschichte und Kultur - Die Katastralgemeinden‘ enthaltene ‚Übersichtskarte der Katastralgemeinde Kierling‘ aus der Zeit von 1920. Schließlich heisst es in einem Bericht über die Grenzbegehung der Stadtgemeinde Klosterneuburg vom Juli 1934 zu dieser Gegend, damals im Volksmund ‚Neu-Kierling‘ genannt: ‚Von hier aus ist die Bachmitte des Kierlingbaches die Grenze zwischen Klosterneuburg und Kierling, es befindet sich z.B. der Besitz Baron Döry mit den Nebengebäuden in Klosterneuburg, mit dem Hauptgebäude in Kierling’

Wie so oft wurde also auch hier die Einheit eines Grundstücks durch eine politische Grenze durchtrennt - zum Glück sind daran heute nur mehr zwei ‚befreundete’ Katastralgemeinden beteiligt !

Zurück in das 19. Jahrhundert und zur wechselvollen Geschichte des Anwesens:  Unter mehreren Kurzzeit-Besitzern nach 1840 sind zuerst Emilie Edle und ihr Mann Josef Ritter von Hohenblum aus Wien hervorzuheben, die dem Anwesen die Bezeichnung ‚Emilienhof’ hinterließen. Statt des Mühlenbetriebs, der um 1850 eingestellt worden sein dürfte, gab es nachfolgend Versuche mit einem Gasthaus und - wie einem ‚Illustrierten Führer durch Nieder-Österreich‘ aus dem Jahr 1883 zu entnehmen - einer ‚Brustkranken-Heil- und Molkencur-Anstalt‘.

Zu dieser Zeit, genauer von 1869 bis 1887, gehörte die Liegenschaft dem bedeutenden Wiener Zeitungsherausgeber Moriz Szeps, der mit seinem deutschliberalenNeuen Wiener Tagblattu.a. dem Kronprinzen Rudolf ein Sprachrohr für dessen politische Visionen bot und Josef Schöffel die Kampagne zur ‚Rettung des Wienerwalds’ ermöglichte. Zu Ehren von Szeps‘ Gattin wandelte sich der ‚Emilienhof’ phonetisch geringfügig zum ‚Amalienhof‘. Tochter Berta wurde als verehelichte Zuckerkandl eine bekannte Publizistin und Netzwerkerin und berichtete später von Sommerfesten, bei denen u.a. der legendäre Alexander Girardi in Klosterneuburg zu Gast war.

Ab 1894 trat als nächster Besitzer Zygmunt Ritter Krotowski von Stoll mit einem herrschaftlichen Milchwirtschaftsbetrieb in Erscheinung; seine Molkereiprodukte, besonders die ‚Thee-Butter‘, wurden preisgekrönt und  beeindruckten bei einer ‚Ausstellung für bürgerliche Kochkunst’ im September 1899 sogar die Erzherzogin Maria Josepha ! Umstritten war laut einigen Zeitungsberichten allerdings der Ruf des aus Łódź in 'Kongresspolen' stammenden Gutsherrn. Vorwürfe der Hochstapelei betrafen auch sein Adelsprädikat, das dessen ungeachtet bis heute im Namen ‚Stollhof‘, ursprünglich ‚Hof Stoll‘, weiterlebt. Ein veröffentlichter Widerruf der Anschuldigungen lässt aber auch die Möglichkeit einer Privatfehde mit antisemitischem Grundrauschen offen…

Moriz Szeps, Karikatur von László von Frecskay in der Satirezeitschrift 'Die Bombe',  22. Juli 1877
Moriz Szeps, Karikatur von László von Frecskay in der Satirezeitschrift 'Die Bombe', 22. Juli 1877

Nach Krotowskis Frau Elise folgte 1909 für die nächsten dreißig Jahre die schon erwähnte, herrschaftliche Familie das Baron Döry. Da diese von der lokalhistorischen Forschung - allen voran Christine und Fritz Chlebecek in ihrem ‚Kierlingtal in Wort und Bild’ - bisher nur kurz erwähnt wird, habe ich versucht, mit Hilfe des unerschöpflichen Fundus im AustriaN Newspapers Online und mit der Unterstützung des Stadtarchivs Klosterneuburg diese Lücke zu schließen. Das Ergebnis, eine kleine Geschichte der Familie Döry von Jobaháza, findet sich unter 'Menschenbilder'.

Auf der dem Hof Stoll gegenüberliegenden Straßenseite stand Jahrhunderte lang eine barocke Steinsäule mit einer Statue des Heiligen Sebastian. 1910 wurde diese in den kleinen Schubertpark am Beginn der Kierlinger Straße versetzt. Die Sebastianisäule bildet nunmehr die Station 11 des Historienpfads 'Untere Stadt'

Für den Stollhof selbst begann 1939 mit dem Erwerb durch die Arbeiter-Versicherungsanstalt ein neues Kapitel. Unter Lorenz Böhler, dem ‚Vater der modernen Unfallchirurgie‘, wurde hier 1943 als Sonderstation des Wiener Unfallkrankenhauses ein erstes Rehabilitationszentrum errichtet; der gegenüberliegende Lorenz-Böhler-Weg erinnert an ihn. 1947 wurde das Zentrum von der neugegründeten 'Allgemeinen Unfallversicherungs-Anstalt' übernommen und ausgebaut. 1966 gab es zwar 90 Betten, aber keine Aufnahmemöglichkeit für Frauen und Querschnittsgelähmte. Aus Kapazitätsgründen wurde daher beim 'Weißen Hof' auf dem Freiberg ein Neubau beschlossen, der 1986 fertiggestellt und bezogen wurde. Auch diesen könnte man einen 'Hof an der Grenze' nennen - liegt er doch in Kritzendorf unweit der Grenze zu Kierling, die hier entlang der Holzgasse verläuft.


Die Ortstafel vor der Einmündung der Egon-Schiele-Gasse markiert übrigens einen Dreifachgrenzpunkt zwischen den Katastralgemeinden Kritzendorf, Kierling und Klosterneuburg. Weiter unten im Neugassengraben beweist ein gut erhaltener, mit 1833 datierter Dreieckstein, dass Kritzendorf früher bis hierher reichte. Damals wie heute setzt sich die Grenze zwischen Klosterneuburg Stadt und Kierling bergab durch die Neugasse fort, erreicht im Tal den Kierlingbach und führt in dessen Mitte zurück zu unserem Ausgangspunkt, dem Stollhof.


Dort zogen nach 1986 die ‚Österreichischen Akademie für Arbeitsmedizin und Prävention' und im Jahr 2003 die AUVA-Beratungsstelle 'Humane Arbeitswelt' ein. Insgesamt erscheint das Gelände für diesen Verwendungszweck jedoch überdimensioniert, zudem sind die Verfallserscheinungen am 'Schloss', dem ehemaligen Hauptgebäude, unübersehbar. In den letzten Jahren tauchten daher mehrfach Ideen für eine alternative Nutzung auf, sowohl von kommunaler Seite als auch von Seiten privater Projektentwickler. Die Errichtung von Wohnbauten würde allerdings eine Umwidmung in Bauland benötigen, was bei der Volksbefragung im Jahr 2013 ebenso deutlich abgelehnt wurde wie die Pläne der Stadtgemeinde für einen Radweg bzw. ein Rückhaltebecken.

Da mittlerweile aber auch die Zukunft des 'Weissen Hofs' ungewiss ist, darf man gespannt sein, wie die AUVA mit ihrem 'feudalen' Grundbesitz weiter verfährt. Noch ist an der Adresse Kierlinger Straße Nr. 87 - zumindest über Zaun und Mauer - der Anblick einer herrlichen Parkanlage möglich, in die der grenzbildende Kierlingbach harmonisch eingebettet ist...

(c) Manfred Pregartbauer, Dezember 2021