Vom Preiner Gscheid zum Semmering

 

Für jemanden, der in der Steiermark geborenen ist und in Niederösterreich lebt, ist eine Erkundung des Grenzweges zwischen den beiden Bundesländern vom Preiner Gscheid zum Semmering [1] etwas mehr als nur ein eindrucksvolles Wandererlebnis.

Das Preiner Gscheid war vor dem Ausbau des Semmering der wichtigste mittelalterliche Verkehrsübergang zwischen dem Wiener Becken und der Obersteiermark. Heute werden die beiden Talorte Kapellen an der Mürz und Prein an der Rax durch die Landesstraße L135/L103 verbunden. Genau auf der 1070 Meter hohen Passhöhe quert die Landesgrenze, sie wird nahe dem Gasthof Edelweisshütte durch einen denkmalgeschützten Grenzstein markiert: die schöne, reliefierte Mariensäule [3] wurde 1654 im Auftrag von Balthasar II Huebmann, dem Abt des Zisterzienserklosters Neuberg an der Mürz, errichtet und trägt u.a. die Aufschrift ‚protege - defende‘, also ‚schütze und verteidige‘. 

[3] Grenzsäule Preiner Gscheid, N 40.676 | O 15.723
[3] Grenzsäule Preiner Gscheid, N 40.676 | O 15.723

Neuberg, eine habsburgische Stiftung aus dem Jahr 1327, die ihren Namen im Gegensatz zum bereits bestehenden Altenberg erhielt, war über 450 Jahre lang das Herrschaftszentrum der gesamten Region. Die ursprünglichen Güter im Oberen Mürztal bis zur Prein wurden kurz nach der Gründung um die Herrschaften Spital und Reichenau erweitert, womit auch das Fröschnitztal bis zum Stuhleck sowie Gebiete um Gloggnitz, in der Prein und auf Rax und Schneeberg Jahrhunderte lang im Neuberger Verwaltungsbesitz waren.

[4] Schneeberg gegen Klosterwappen, N 47.760 | O 15.830
[4] Schneeberg gegen Klosterwappen, N 47.760 | O 15.830

Die Gipfelbezeichnung des Klosterwappens [4]  geht auf diese alte Grenzlage zurück, ebenso der Name des Dreimarksteins. Der unregelmäßige  Verlauf der heutigen Landesgrenze quer über die Rax hat mit Weiderechten der seinerzeitiger Untertanen zu tun.

1379 war das Neuberger Stift - vermutlich der Kapitelsaal - Schauplatz des ersten Teilungsvertrags der habsburgischen Erblande zwischen Albrecht und Leopold, den Brüdern des verstorbenen, selbsternannten Erzherzogs Rudolf IV., genannt der Stifter. Dabei wurde auch der Grenzbezirk um Wiener Neustadt geteilt, die Städte Wiener Neustadt und Neunkirchen kamen vorübergehend wieder zur Steiermark. Erst etwa hundert Jahre später wurde das ‚Neuberger Münster’ [5], die Stiftskirche ‚Mariä Himmelfahrt‘ mit ihrem imposanten hölzernen Dachstuhl fertiggestellt. Das Kürzel ‚AEIOU‘ an mehreren Stellen zeigt an, dass die Bauzeit in die Regierungszeit des ‚leopoldinischen’ Herzogs und späteren römisch-deutschen Kaisers Friedrich III. fiel.

Nach einer wechselvollen Geschichte, während der die Äbte sommers gern im Reichenauer Schloss residierten, fiel das Kloster der Säkularisierung Kaiser Josephs II. zum Opfer. Die Herrschaft Reichenau ging in das Eigentum der Innerberger Hauptgesellschaft über, während die Herrschaft Neuberg 1800 dem montanistischen Ärar, also der staatlichen Bergbauverwaltung, unterstellt wurde. Später wählte der Kaiserhof die waldreiche Gegend zu seinem bevorzugten Jagdgebiet und ließ 1869 im Nachbarort Mürzsteg ein Jagdschloss errichten.

1923 kamen die Neuberger Wälder mit einer eigenen Gebietsverwaltung

zu den neu gegründeten Österreichischen Bundesforsten.

Nachdem Ende 2007 der Stiftskomplex (ohne die nunmehrige Pfarrkirche) an eine private Immobiliengruppe veräußert wurde, hat das Bundesforstrevier Neuberg heute seinen Sitz im Ortsteil Krampen, das benachbarte Revier Mürzzuschlag in Neuberg selbst.

[5] Neuberger Münster, N 47.663 | O 15.579
[5] Neuberger Münster, N 47.663 | O 15.579

Damit ist es höchste Zeit für eine Rückkehr auf das Preiner Gscheid zum Einstieg in das ca. 15 km lange Teilstück des Europäischen Fernwanderwegs Nr. 4 ‚Pyrenäen - Jura - Neusiedler See‘ ! Die Route folgt weitgehend der bewaldeten Kammlinie, die mit einigen Einbuchtungen die Bundeslandgrenze bildet. Wenig überraschend wird der Weg daher von Grenzsteinen [6],[7] gesäumt, die über dem eingemeisselten, kaiserlich-königlichen ‚KK’ deutlich das aktuelle ‚BF’ für die Zuständigkeit der Bundesforste zeigen. Genauer gesagt markieren sie über die Erhebung des Sitzbichls bis zum Tattermannkreuz einen Teil der Westgrenze des Forstreviers Mürzzuschlag. Direkt beim einfachen, hölzernen Flurdenkmal [8] fällt ein historischer Grenzstein mit der Jahreszahl 1835 auf, der nach einer Spezialbehandlung das  Zeichen für die Herrschaft Reichenau auf der niederösterreichischen und ein A.H.D. (für ‚ärarische Hof Domäne?) [9] auf der steirischen Seite schwarz auf weiss zur Schau stellt. Von hier, vorbei an der Paulinenquelle, ist die Grenzlinie eine interne Angelegenheit der Bundesforste, rechter Hand das Revier Neuberg, linker Hand das Revier Mürzzuschlag.

Auf dem 1565 m hohen Tratenkogel, der eigentlich ein (ver)drahter Kogel ist, fehlt zwar ein Gipfelkreuz, dafür steht hier ein stattlicher Grenzstein aus dem Jahr 1833 mit rot-weiss-roter Wegmarkierung über einer undeutlichen Gravur, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ‚HN’ für ‚Herrschaft Neuberg‘ lautet [10]. Damit verabschiedet sich Neuberg für den weiteren Wegverlauf Richtung Kampalpe [11]. Die nachfolgende Serie von Steinen mit dem BF auf der Ost- bzw. Nordseite markiert das Revier Mürzzuschlag gegenüber Wäldern in Privatbesitz. Ab der Ochnerhöhe läßt die Bundesforste-Aufschrift eine Zeit lang auch die Kontur ‚FL‘ für eine ehemalige Fürst-Liechtenstein’sche Waldgrenze durchscheinen [12]. 

Vom Pinkenkogel, dessen Schutzhütte zur Zeit leider unbetreut ist, geht es schließlich 300 Höhenmeter bergab, vorbei an der Rückseite des Hotel Panhans, zur 984 Meter über der Adria gelegenen Passhöhe des Semmering [13]. 


Dieser historisch reichhaltige Ort hat es - nicht zuletzt wegen der liebevollen Umschreibung der Steirer als ‚wildes Bergvolk hinter dem Semmering‘ - zu einer gängigen Grenzmetapher gebracht. Seine verkehrsmäßige Erschließung, heute überwiegend in Tunnels verlagert, wird Mitte des 12. Jahrhunderts angenommen, unmittelbar nach dem zweiten Kreuzzug und am Beginn des aufblühenden Venedigerhandels. Die unterstützende Gründung eines Hospizes (Spital am Semmering) zur Sicherung der ‚Pilger und Armen‘ datiert mit 1160. Das Passgebiet, damals ‚Cerewalt‘, später ‚Semernic‘ genannt, gehörte zur Herrschaft Klamm, lag also in der Grafschaft Pitten, die mit dem Erbvertrag von 1186, der ‚Georgenberger Handfeste‘, an die Babenberger Herzöge von Österreich fiel. Die früheste Hervorhebung als Grenze erfuhr der Semmering gemeinsam mit der Wasserscheide der Mur im Jahr 1254, als das Babenberger Erbe zwischen dem Ungarnkönig Bela und Ottokar von Böhmen aufgeteilt wurde. Unter den Habsburgern geriet er dann irgendwie zum Symbol der internen Spannungen, die sich in den beiden Erbteilungen äußerten: Die erste wurde schon oben beim Kloster Neuberg erwähnt; nach der zweiten im Jahr 1564 kam für die Kronländer, die von Graz aus regiert wurden, der Begriff ‚Innerösterreich‘ in Gebrauch. Lokale Grenzstreitigkeiten zwischen Schottwien und Spital bzw. den Herrschaften Klamm und Neuberg, die bis 1709 sogar zu Kampfhandlungen (!) führten, bekamen dadurch auch eine überregionale Bedeutung. Die niederösterreichischen und steirischen Stände beauftragten daher im Jahr 1713 die bedeutenden Kartographen Johann Jakob Marinoni und Cornelius Mauro mit der Erstellung verlässlicher Detailkarten - die frühesten dieses Gebietes, die sich heute im Besitz der Niederösterreichischen Landesbibliothek befinden [13]. Die folgenden drei Jahrzehnte blieben trotz der regulierten Grenze bewegt: erst waren es die Bauarbeiten für das von Marinoni geplante Teilstück der Reichsstraße von Wien nach Triest, das Kaiser Karl VI. im Jahr 1728 eröffnete, und an die der Meilenstein und das pompöse Denkmal auf der Passhöhe erinnern [15],[16]. 1741 veranlasste schließlich der steirische Landesverteidigungsausschuss die ingenieursmäßige Befestigung der ‚Semmeringgrenze‘ mit Palisaden, Geschützständen und Wachttürmen. Diesmal ging es um keine (nieder)österreichisch-steirischen Feindseligkeiten, sondern um die Bedrohung durch den bayrischen Kurfürsten Karl Albert, der im Zuge des österreichischen Erbfolgekriegs Oberösterreich besetzt hatte. Die Gefahr löste sich quasi von selbst, da die Bayern in der Folge Kurs auf Prag statt auf Graz nahmen. 

Im Steiermärkischen Landesarchiv findet sich die am Beginn des Beitrags gezeigte, großformatige Darstellung dieser Befestigungsanlagen [2], mit dem Preiner Gscheid und dem Semmering als östlichem Abschluss. Fast 300 Jahre später hat mich nicht zuletzt dieses Bild zur Beschreitung und punktuellen Beschreibung dieses Grenzabschnitts angeregt. 

Es ist heute die Normalität, zwischen den beiden Bundesländern formlos pendeln zu können. In vielen Lebensbereichen, z.B. im Jahr 2021 beim Impfen oder Testen gegen COVID19, macht es allerdings einen Unterschied, ob man auf der niederösterreichischen oder auf der steirischen Seite gemeldet ist - also doch eine Grenze..

 

(c) Manfred Pregartbauer, Stand Juli 2021